Rede zum Volkstrauertag 2018

18. November 2018

Bürgermeister Bernhard Ruß, Sand

Volkstrauertag 2018

Das Jahr 2018 steht historisch im Zeichen zweier Weltkriege, die in ihrer Zeit unermessliches Leid über die Menschen brachten. Der Dreißigjährige Krieg – 1618 bis 1648 – wie auch der Erste Weltkrieg – 1914 bis 1918 – entfesselten eine Eruption der Gewalt, die nicht nur tief in die Kampfgebiete, sondern in die ganze Gesellschaft wirkte. Der Krieg brachte Hunger, Flucht und Epidemien bis in weit entfernte Gegenden. Er hinterließ Tod, Trauer und tiefe Wunden in den Menschen, die aus dem Kreislauf des Hasses und der Unversöhnlichkeit nicht mehr herausfanden.

Das Jahr 2018 steht aber auch im Zeichen der Friedensschlüsse von Münster und Osnabrück sowie des Kriegsendes vor 100 Jahren. Die Bilder von den Feierlichkeiten am vergangenen Sonntag in Compiegne mit den Staatsoberhäuptern aus aller Welt sind uns allen noch im Gedächtnis. Der November 1918 brachte nicht nur das Ende eines schrecklichen Krieges. Er bedeutete für Deutschland und auch Österreich das Ende des Kaiserreiches und den Beginn einer Volksherrschaft

Die Revolution mit der Ausrufung der Republik am 9. November 1918, so ungeplant und improvisiert sie auch war, steht für eine tiefgreifende Zäsur in der deutschen Geschichte, für einen Aufbruch in die Moderne.

Viele ihrer Errungenschaften prägen heute unser Land, auch wenn uns das nicht jeden Tag bewusst ist. Die Revolution brachte allen deutschen Parlamenten das allgemeine und gleiche Wahlrecht – endlich, zum ersten Mal auch für die Frauen! Sie bahnte den Weg zur Weimarer Nationalversammlung, zu einer republikanischen Verfassung, zur parlamentarischen Demokratie, der ersten in der Geschichte unseres Landes. Auch Grundsteine des modernen Sozialstaats legte diese Revolution: Achtstundentag, Tarifpartnerschaft, Mitbestimmung durch Betriebsräte – all das steht für den sozialen Fortschritt, der damals inmitten der Nachkriegswirren begann.

Aber trotz alledem hat die Revolution bis heute kaum Spuren im Gedächtnis unserer Nation hinterlassen. Der 9. November 1918 ist auf der Landkarte der deutschen Erinnerungsorte zwar verzeichnet, aber er hat nie den Platz gefunden, der ihm eigentlich zusteht. Er ist ein Stiefkind unserer Demokratiegeschichte – eben auch, weil der 9. November tatsächlich ein ambivalenter Tag ist, weil er für Licht und für Schatten steht, weil wir jene Demokratie, die damals begann, fast nie von ihrem Anfang, sondern meist von ihrem Ende her denken.

Vor 80 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, brannten in Deutschland die Synagogen. Jüdische Geschäfte wurden geplündert und zerstört. Hunderte Frauen und Männer wurden von Nationalsozialisten getötet, begingen Selbstmord oder starben, nachdem sie in Konzentrationslagern misshandelt worden waren. Diese Pogrome – damals für alle sichtbar - waren ein Vorbote der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. Sie stehen für den unvergleichlichen Bruch der Zivilisation, für den Absturz Deutschlands in die Barbarei.

Wir gedenken heute der Opfer des Nationalsozialismus. Eine verblendete Ideologie kostete die schier unglaubliche Zahl von 60 Millionen Menschenleben. Es waren Angehörige unseres Volkes, unsere Vorfahren, unsere Landsleute, die als Soldaten, bei Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind. Aber es waren auch Menschen, die in den Ländern wie Polen oder der Sowjetunion im deutschen Namen getötet wurden. Es waren sechs Millionen Juden, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Auch für diese Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft trägt Deutschland die Verantwortung; und wir wissen um unsere Verantwortung – eine Verantwortung, die keinen Schlussstrich kennt.

In unserem Handeln müssen wir beweisen, dass wir Deutschen wirklich gelernt haben, dass wir wirklich wachsamer geworden sind im Angesicht unserer Geschichte! Wir müssen handeln, wo auch immer die Würde eines Anderen verletzt wird! Wir müssen gegensteuern, wenn eine Sprache des Hasses um sich greift! Wir dürfen nicht zulassen, dass einige wieder von sich behaupten, allein für das "wahre Volk" zu sprechen, und andere ausgrenzen! Wir müssen widersprechen, wenn Gruppen zu Sündenböcken erklärt werden, wenn Menschen einer bestimmten Religion oder Hautfarbe unter Generalverdacht gestellt werden, und wir dürfen nicht nachlassen im Kampf gegen den Antisemitismus! Wir müssen verhindern, dass sich die Gruppen immer mehr voreinander verschanzen. Wir müssen uns aufraffen und aufeinander zugehen! Wir müssen dafür sorgen, dass diese Gesellschaft mit sich selbst im Gespräch bleibt.

Und – auch das: Wir müssen wieder kämpfen für den Zusammenhalt in Europa, und wir müssen streiten für eine internationale Ordnung, die angefochten wird – selbst von unseren Partnern. Denn dieser europäischen Einigung und dieser internationalen Ordnung haben wir es zu verdanken, dass wir Deutschen heute wieder ein Volk sind, das wirtschaftlich und politisch zu Kräften gekommen ist; das in seiner großen Mehrheit weltoffen und europäisch leben will; das von vielen in der Welt geachtet, ja sogar geschätzt wird.

Dass wir diesem großen Glück durch unser Handeln gerecht werden – das ist der wahre Auftrag dieses heutigen Tages. Er richtet sich an jeden Deutschen, weit über Gedenkstunden hinaus. Nehmen wir diese Verpflichtung an!

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