Bürgermeister spannt Bogen zu Paris

In seiner Gedenkrede zum diesjährigen Volkstrauertag erinnerte Bürgermeister Ruß an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 70 Jahren. Er spannte dabei auch den Bogen zu den schrecklichen Ereignissen von Paris. Diese zeigten einmal mehr, dass die Konflikte im Nahen Osten unmittelbar in unser Leben eindringen können. Sie seien in direktem Zusammenhang mit der Destabilisierung des Nahen Ostens zu sehen.

Das Jahr 2015 steht im Zeichen des Gedenkens an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren. Dieser zweite weltweite Krieg des letzten Jahrhunderts hatte binnen sechs Jahren die schier unglaubliche Zahl von 60 Millionen Menschenleben gefordert. Nie zuvor gehörte zudem eine solch grausame Menschenverachtung und annähernde Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen zu einer kriegerischen Auseinandersetzung. 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs verstummen bald die für die Erinnerung so wichtigen Stimmen der Menschen, die authentisch von den Gräueln berichten können. Umso wichtiger werden andere Zeichen der Versöhnung.

Wir, die wir weitgehend einer Generation entstammen, die nicht die Gräuel des Krieges kennenlernen musste, sollten dankbar dafür sein. Uns sollte es deshalb ein Anliegen sein, das Andenken an diejenigen zu bewahren, die nicht das Glück hatten, in Frieden und Freiheit aufzuwachsen, die ungefragt für ein verbrecherisches Regime ihr Leben lassen mussten und in fremder Erde bestattet sind. Dass die Erinnerung an diese Toten in Würde aufrecht erhalten bleibt, muss uns ein großes Anliegen sein. Am Volkstrauertag, wenn in Deutschland die Fahnen auf Halbmast wehen, gedenken wir der Befreiung Deutschlands durch die Alliierten vom Nationalsozialismus und dem damit verbundenen Ende des Sterbens auf den Schlachtfeldern, in den Vernichtungslagern und in den ausgebombten Städten.

Sind wir also, wenn wir der Kriegstoten des 20. Jahrhunderts gedenken, in einer weit zurückliegenden Vergangenheit, die uns ohne Berührungspunkte zum Hier und Jetzt nicht mehr ängstigen muss?

Die Anschläge von Paris zeigen einmal mehr, dass die Konflikte im Nahen Osten unmittelbar in unser Leben eindringen können. Sie sind in direktem Zusammenhang mit der Destabilisierung des Nahen Ostens zu sehen. Die Aktion des Islamischen Staats ist nicht nur ein Angriff auf Frankreich, sondern auch auf unsere westliche freiheitliche Demokratie.

Bei aller Trauer und Mitgefühl mit den Opfern in Frankreich, sollten wir nicht voreilig falsche Schlüsse ziehen. Die Menschen, die aus Syrien zu uns flüchten sind ebenfalls Opfer dieser Gewalt. Menschen, die aus einem Land kommen, das selbst in großer Not ist, dürfen wir nicht dafür bestrafen. Sicherheit und Menschlichkeit in Einklang zu bringen, ist die große nationale und internationale Aufgabe der Stunde. Mit der Ankunft syrischer Flüchtlinge im August dieses Jahres in unserer Gemeinde ist uns einer der Krisenherde der Welt ganz nah gekommen. Wer sich mit diesen Menschen und ihren Problemen auseinandersetzt, lernt, unsere Welt ein bisschen besser zu verstehen.

Um die Fehler von gestern heute und in der Zukunft nicht zu wiederholen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Indem wir die Toten und die Orte des Schreckens nicht vergessen, wird ein unerlässlicher Beitrag zum Frieden und zur Demokratie in der Gegenwart geleistet.

Die Notwendigkeit, der Toten zu gedenken und die Deutungshoheit über Kriegsgräber nicht der Beliebigkeit anheimfallen zu lassen, wird in Anbetracht der Feinde unserer Demokratie erneut deutlich. Viele dieser Gruppen, die auch auf junge Menschen eine hohe Anziehungskraft ausüben, sehen im europäischen Integrationsprozess die Wurzel allen Übels.

Richtig ist, dass die Europäische Union vor großen Herausforderungen steht, wodurch sie regelmäßig auch unter Legitimierungszwang gerät. Die Notwendigkeit des europäischen Zusammengehens lässt sich wohl kaum eindrucksvoller unter Beweis stellen als durch einen Blick auf das 20. Jahrhundert.

Erst das Zusammenrücken der Nationen hat einen verlässlichen Frieden ermöglicht, welcher zuvor nicht möglich schien. Es ist blinder Nationalismus oder manchmal auch nur plumpes politisches Kalkül Torheit, am Haus Europa zu rütteln und die erfahrene Solidarität auf dem Altar eigener Interessen zu opfern. Die Kriegsgräber von Millionen Toten mahnen die Lebenden und sind deshalb bedeutender Teil unserer europäischen Identität. Auch deshalb dürfen wir sie nicht radikalen Europagegnern, Extremisten und Nationalisten überlassen.

Siebzig Jahre Kriegsende, das sind auch siebzig Jahre seit dem Beginn der deutschen Teilung, die Familien, Freunde, ja ganze Gemeinden auseinanderriss. Der Osten Europas konnte erst mit dem Fall der Berliner Mauer zusammenwachsen und am europäischen Integrationsprozess teilhaben. Mit dem Sieg von Freiheit und Demokratie in den weitgehend friedlichen Umbrüchen vor 25 Jahren begann ein neues Zeitalter für Europa. Daran sollten die Regierenden in den Ländern Osteuropas denken, wenn von ihnen Menschlichkeit und Solidarität im Umgang mit Menschen in Not verlangt wird.

Indem wir an diejenigen erinnern, denen diese universellen Werte damals nicht zuteilwurden und denen sie heute verweigert werden, unterstreichen wir ihre Bedeutung als ein hohes und schützenswertes Gut. Hierin besteht eine unserer vordringlichsten Aufgaben, nicht nur am Volkstrauertag.

Bernhard Ruß

  1. Bürgermeister